Von Frau Dr. Irmgard Weinhofen, Germanistin
eingefügt am: 11.08.2010
Gedanken zu Christa Matys Roman „Liebe und Leid von Gestern“
Nimmt ein Leser das Buch zur Hand, dann ist es seine Titelseite, die vielversprechend auf sich aufmerksam macht. Einmal wegen der farblich gelungenen Gestaltung, einem Zusammenspiel zwischen zartem Lila und grau-brauner Farbnuance mit sanftem Rot, zum anderen, weil es ein oval gerahmtes Bildnis eines bezaubernden Frauenkopfes in der Haar- und Hutmode der 20er Jahre schmückend umschließt. Der Anblick dieser ausdrucksstarken, wehmütig dreinschauenden Augen spricht das Gefühl dermaßen an, lässt einen nicht los, man muss das Bild immer wieder anschauen – und es macht neugierig auf die Handlung des Romans.
Beim späteren Lesen bestätigt sich die vorweggenommene Übereinstimmung zwischen Gestaltung des Titelblattes, dem gewählten Romantitel und dem Inhalt.
Der Text zieht einen von der ersten Seite an in seinen Bann. Dabei entwickelt die Autorin eine ansprechende Erzählweise. Sie schreibt einen lebendigen, flüssigen Stil, pflegt eine schöne, ungekünstelte Sprache, spart auch nicht mit unverhüllten, sinnlichen, gleichsam die Fantasie anregenden Darstellungen, während die Spannung ihres schreibenden Erzählens sich systematisch steigert. Dieses Buch bereitet Lesevergnügen. Ohne Zweifel wird es beim lesenden Publikum viel Zuspruch finden.
Neben dem geschilderten Handlungsverlauf zwischen Liebe und Leid im Detail zeichnet die Autorin ein historisch-realistisches Bild der in den zwanziger / dreißiger Jahren herrschenden bevölkerungspolitischen Verhältnisse, das außerdem von der Weltwirtschaftskrise, Hitlers Machtergreifung, der Judenverfolgung, dem Zweiten Weltkrieg, seinem verheerenden Ende, dem Mauerbau und darüber hinaus bis in die siebziger Jahre reicht.
Im Mittelpunkt des Romans steht die Heldin der Fabel „Agnes“, eine begnadete Floristin, deren Traum nach selbstständiger Existenz sich in einem eigenen Blumengeschäft im geschäftigen Berlin erfüllt. Ihr Können, die Auswahl der zum Verkauf dargebotenen Blumenpracht sowie ihre Kunst des Blumenbindens bescheren ihr einen florierenden Umsatz – nicht zuletzt wegen ihrer anziehenden Schönheit.
Ihre erste überwältigende Liebe erlebt sie mit einem gut aussehenden, jungen Grafiker, dessen Heiratsabsichten mit seinem tödlichen Autounfall jäh enden.
Zwei Jahre später öffnet sie sich einer neuen Liebe. Noch einmal wird sie sehr glücklich, er war ein jüdischer Juwelier. Über diese Liebe schwebt bereits das Damoklesschwert der wachsenden Judendiskriminierung. Einziger Ausweg: die Emigration. Sein Versprechen, Agnes nach einigen wenigen Monaten existentiellen Aufbaus nachzuholen, zerbricht an seinem plötzlichen Krebstod. Für Agnes stürzt eine Welt ein. Zu dieser Zeit stellt sie fest, sie trägt sein Kind unter dem Herzen, wovon er nichts mehr erfahren kann.
Die Größe menschlichen Gefühls beider Liebesverbindungen sprechen zu Herzen, hätten in Schönheit und Faszination wohl kaum bewegender erzählt werden können.
Subjektiver Betrachtungsweise sei es erlaubt zu sagen ist der qualitativ stärkste Teil des Romans zu Ende. Ab S. 220 erfährt er seine Zäsur.
Was geschieht danach? Agnes erlebt ein kurzes Ehedesaster mit einem Lehrer, der sie schlägt und vergewaltigt.
1933 ergreift Hitler die Macht. Der einsetzende wirtschaftliche Aufschwung geht ein her mit Aufrüstung und Kriegsvorbereitung. Gleichzeitig verschärft sich die Judenverfolgung, die auch vor Kindern keine Gnade kennt. Noch einmal gibt Agnes – auf Anraten ihrer Eltern – dem Werben eines Buchdruckers nach, um durch Heirat ihren nichtarischen Sohn besser schützen zu können. Der Versuch, ein intaktes Familienleben trotz Geburt einer Tochter aufzubauen, gelingt nur mühsam. Einerseits kommt Agnes die Einberufung ihres Mannes zu Hilfe, andererseits geben sie sich Hoffnung, dass es nach Kriegsende besser werden soll. Diese Hoffnung braucht kein Erproben. Er lässt sein Leben für „Volk und Vaterland“. Agnes ist 34 Jahre jung. Wie viel Leid kann ein Mensch verkraften?
Inzwischen sind die Auswirkungen des Krieges überall in Deutschland zu spüren. Der Kriegsalltag wird immer bedrückender.
Agnes ganze Sorge gilt, das Überleben ihres halbjüdischen Sohnes zu sichern. Dabei stehen ihr die Eltern mit Rat und Tat zur Seite. Als die Situation immer gefährlicher wird, baut ihm der Vater ein Versteck auf dem Gelände seiner Gärtnerei. Der Junge durchsteht die schreckliche Zeit bis zum Kriegsende und überlebt.
In dem Bewusstsein der Eltern für die Rettung des Kindes selbst ihr Leben aufs Spiel zu setzen, geht ihr Mut literarisch in die Handlung ein.
Der Krieg ist aus. Die Russen erobern Berlin. Agnes erlebt mit Kindern und Eltern gemeinsam das Kriegsende.
In den Wirren der Nachkriegstage erlebt Agnes noch einmal ein kleines Wunder. Ein russischer Offizier der Besatzungsmacht verzaubert sie mit seinem Piano-Spiel. Die Musik macht sie zu Liebenden. Beide wissen, eine gemeinsame Zukunft kann es für sie nicht geben.
Die darauffolgenden Jahre gleiten dem Leser schnell, zu schnell dahin. Er kann das Buch, der durchgehenden Spannung wegen, nur schwer aus der Hand legen. Er liest und liest, will stets noch mehr, noch ausführlicher über die Heldin wissen.
Ein letzter Gedanke als Gesamteindruck: Hier liegt ein Roman vor, der durch einen biografisch stark geprägten Hintergrund entstanden ist. Die Autorin nutzt die Lebensläufe der ihr vertrauten Personen, schöpft aus eigenem Erleben, und schuf so ein lebensnahes, literarisches Werk. Die geschilderten Begebenheiten im einzelnen spiegeln sich in der aktuellen politischen Situation jener Zeit.
Außerdem wird deutsche Geschichte dreier Generationen des vergangenen Jahrhunderts im Zeitraffersystem aufgezeigt, in deren Schicksal eigene Vergangenheit des anonymen Lesers literarisch aufgehoben ist.
„Liebe und Leid von Gestern“, ein Werk der Belletristik im besten Sinn des Wortes.